Hadmar Lichtenwallner
Hadmar Lichtenwallner zu "Alkestis"
Mythen und Legenden waren neben religiösen und politischen sowie historischen Inhalten bis ins frühe 19. Jahrhundert die vorherrschenden, bisweilen einzigen Themen abendländischer Malerei. Heute inspirieren die traditionellen religiösen Topoi kaum noch große Kunst, historische Ereignisse haben als Bildanlässe weitgehend ausgedient, und politisch engagierte Künstler bedienen sich spätestens seit Joseph Beuys meist anderer Medien und Ausdrucksformen als der althergebrachten. Einzig die Beziehung zwischen Kunst und Mythos scheint sich wenig verändert zu haben. Mythen stellen auch im 20. Jahrhundert einen scheinbar unerschöpflichen Ideenpool dar; Künstler wie Pablo Picasso, Max Ernst, Rudolf Hausner, Ernst Fuchs, Sigmar Polke, Markus Lüpertz, Siegfried Anzinger und Pier Paolo Pasolini haben sich daraus bedient, um nur einige zu nennen. Ingrid Brandstetters Zyklus Alkestis mag ein Zeichen dafür sein, dass die großen Mythen des Altertums ihre Strahlkraft auch im 21. Jahrhundert nicht einbüßen werden. Der Überhöhung allgemein menschlicher Erfahrungen zu universalen Gleichnissen der conditio humana entspricht die Überhöhung des Alltäglichen durch Kunst, was ja auch lange Zeit als deren konstituierendes Merkmal galt. Ausgangspunkt für Ingrid Brandstetter war neben der antiken Version der Geschichte vom Opfer der Alkestis auch ihre dichterische Interpretation durch Rainer Maria Rilke, die, wie sie sagt, sofort entsprechende Bildvorstellungen in ihr auslöste:
"Sie fühlten nicht, die Trinkenden, des Gottes heimlichen Eintritt, welcher seine Gottheit so an sich hielt wie einen nassen Mantel" – schemenhaft erscheint der Gott am Bildrand, auf gleicher Höhe mit der Hochzeitsgesellschaft, aber doch deutlich von ihr abgegrenzt. "… ein wenig kleiner fast als er sie kannte, und leicht und traurig in dem bleichen Brautkleid" – Eine anmutige Gestalt tritt uns entgegen, vom engen Kleid weich umschmiegt, das Gesicht im Dunkel. "Ich nahm ja Abschied. Abschied über Abschied." – Sie, die nichts mehr zu verlieren hat, vollzieht den letzten Schritt der Loslösung von der Welt und zieht sich in sich selbst zurück, zusammengekrümmt in embryonaler Haltung.
Die von Rilkes Versen evozierten Bilder hielt die Künstlerin zunächst in unzähligen schnellen Skizzen fest, die überzeugendsten Kompositionen realisierte sie dann in großformatigen Ölbildern. Dabei steht ihr ein reichhaltiges Repertoire an malerischen Mitteln zur Verfügung. Mit Bedacht setzt sie Kontraste, balanciert leuchtende und unbunte Farben gegeneinander aus, arbeitet mit Akzentuierungen und Unschärfen und erzeugt magische Farbklänge. Jede Fläche, jede Farbe wird dabei zum Ausdrucksträger, und bei aller Kühnheit (so reicht etwa die Palette für die Wiedergabe von Haut von realistischem Inkarnat bis zu Gelb, Blau, Weiß und Schwarz) ergibt sich doch in jedem Bild ein stimmiger Akkord.
Es entsteht eine neue Version der alten Geschichte – delikat, überraschend und mehrdeutig wie diese, aber von einer neuen, nur im visuellen Bereich erschließbaren Schönheit und Sinnlichkeit. Dies ist, auch im 21. Jahrhundert, ebenso gültig wie jene Kunst, die zugunsten anderer Botschaften und Werte bewusst auf Aura und Schönheit (Mc Evilley) verzichtet.
Hadmar Lichtenwallner