Elisabeth Schawerda
Allegro ma non troppo
Mein Erwachen am Morgen ist wie ein Sprung aus der Nacht in den Tag, spontan, übergangslos. Und sofort bemühe ich mich um Orientierung: wo bin ich. Und was ist gerade los in meinem Leben. Was war gestern, was wird heute sein? Ich rufe mir dies alles kurz ins Gedächtnis, überprüfe es und stelle fest: alles in Ordnung. Mein Mann schläft tief und ruhig atmend neben mir, meine Kinder und deren Kinder waren gestern noch wohlauf und zukunftsfroh, meinen Freunden geht es gut, ich selber bin gesund, nichts tut mir weh, keine Sorge bedrückt mich. Nun könnte ich mit ungetrübter, mit makelloser Fröhlichkeit aus dem Bett springen, vielleicht singend, das Fenster öffnen und den Tag begrüßen.
Aber da ist meistens ein Schatten, eine kleine Angst. Was wirft den Schatten, wovor die Angst? Ich grüble nicht darüber nach, Schatten und Angst sind ja so klein. Ich ignoriere sie, sie haben keinen offensichtlichen Grund. Aber sie schaffen es, dass nicht möglich ist, was so schön wäre: unbeschwert zu sein.
Unbeschwert. Langsam und mit Sorgfalt ausgesprochen entfaltet dieses Wort seinen Wohlklang: beginnend mit dem dunklen, samtigen U steigt die Welle vom unbetonten zum betonten e leicht auf, gebunden in sanfte, fast vokalische Konsonanten. Da ist nichts zu hören und zu fühlen von der Härte der deutschen Sprache. Aber es ist ein verneinendes Wort, das enthält was es verneint. Die Schwere ist anwesend im ‚Unbeschwert’. Als Erinnerung oder Erfahrung, als mögliche Bedrohung. Als Schatten. Als etwas, das im Dunklen wartet.
Und auch andere Adjektive, die uns so positiv erscheinen und doch nur die Verneinung des Negativen sind: ‚Makellos’ klingt fast wie weißer Marmor, so rein und kühl, dass man die Bedrohung durch einen Makel nicht wahrnimmt. ‚Ungetrübt’ hingegen trägt das Trübe noch mit sich, wenn auch auf fast zärtliche Weise, wie einen leichten, warmen Regen. – Es ist nicht einfach für ein Wort, uns von seinem Gegenteil zu überzeugen mit Hilfe einer kleinen Vor- oder Nachsilbe.
Das Deutsche ist eine zweifelnde Sprache. An der Bedeutung der Worte haftet oft ein Wenn und Aber. Was hell ist, stellt sein Licht durch den Schatten dar, der an seinen Fersen haftet. ‚Wo viel Licht, ist viel Schatten’ ist ein oft gehörter Spruch.
Allegro ma non troppo. Wenn jemand fröhlich aber nicht zu fröhlich ist, dann ist er keinesfalls ‚ausgelassen’. Der Ausgelassene war wohl vorher eingeschlossen und darf non an der leine, vielleicht sogar einer langen Leine laufen.
Die pessimistische Lebenseinstellung hat uns etliche Sprichwörter und Redensarten beschert. ‚Freu dich nicht zu früh!’ Eine Warnung. Freu dich nicht zu sehr. ‚Es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in en Himmel wachsen’. – Ein demokratischer Spruch, der ein wenig Gleichheit schaffen will zum Trost der Erfolglosen und zur Mahnung der allzu Ehrgeizigen. Das Maßvolle wird uns empfohlen, nicht das Übermaß. ‚Übermut tut selten gut’. Alles mit Maß und Ziel’. Aber wozu ist der Himmel da, wenn es nicht sein darf ihn zu erreichen? Wohin mit der Energie, die über die Grenzen des Maßvollen möchte?
In der Sprache kommt Vorsicht zum Ausdruck und auch ein bisschen Hypochondrie. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, heißt es. Und das Jahr nicht vor dem Herbst. Solange die Ernte nicht eingebracht ist, kann sie Hagel, Sturm und Regen zerstören. Ein wenig jammern, um den Neid der Mitmenschen oder den der Götter nicht herauszufordern, scheint angebracht zu sein. ‚Verschrei es nicht’, sagt man, als wäre ein Zuviel an Optimismus gefährlich. Vorsicht auf allen Ebenen. Nicht zu fröhlich, nicht zu glücklich sein. Aber Abends wenigstens sollte man den Tag loben. Und im Herbst feiert man Erntedank.
Es ist nicht der Herbst, der auf mein Gemüt drückt, weil nun die Nächte länger werden. ‚Der Nebel steigt, es fällt das Laub, es fällt das Laub; / schenk ein den Wein, den holden! / Wir wollen uns den grauen Tag / vergolden, ja vergolden!’ (Theodor Storm, Oktoberlied). Das Steigen und das Fallen, beides ist gut und schön und wird mit Freude begrüßt. Es ist der Frühling, der mich schwermütig macht. Während die Schönheit des Herbstes wie die Fülle des Lebens ist, Erntezeit, berauschend, beglückend, mit Zufriedenheit erfüllend, ist die Schönheit des Frühlings schmerzhaft. Le Sacre du Printemps, der Frühling verlangt ein Opfer für die Erneuerung des Lebens. Er ist Hoffnung, die ihren Preis hat und sich vor Enttäuschung fürchtet. Anfang, der auf die rasche Vergänglichkeit verweist. Ein Erwachen wie am Morgen, wenn mein Sprung aus dem Bett mit einer Schwere des Herzens im Bunde ist.
Meine Erinnerung ist übervoll wie der Tiefspeicher der Nationalbibliothek. Ich fordere meine Archivare auf mir schöne Augenblicke heraufzuholen. Ich brauche manchmal ihr Gegengewicht, aus Gerechtigkeitssinn meinem Leben gegenüber. Der schatten soll erkennen, dass er unberechtigter Weise anwesend ist. Und der Tag soll ohne Wenn und Aber ‚unbekümmert’ beginnen.
In seiner Erzählung ‚Piuma’ beschreibt Luigi Pirandello eine unheilbar Kranke, die seit Jahren nur einige Tropfen Wasser, einige Tropfen Milch zu sich nimmt. In ihrem weißen Bett in der Stille ihres Zimmers hält sie sich durch Erinnerungen am Leben. Sie vergegenwärtigt sich die Farben und Gerüche des Sommers, die Berührung von Gras, Laub und Stein. Alle Jahreszeiten, alle Landschaften, jeder Weg, den sie einstens gegangen ist, erstehen in ihr in klarer Intensität. Mit allen Sinnen nimmt sie das Leben in seinen erfüllten Augenblicken wahr und erhält damit ihr eigenes.
Ein Tag hat viele Stunden, aber ein Augenblick genügt, um ihn zu einem unvergesslichen Tag zu machen.
Wie reduziert man Fröhlichkeit, ohne sie zu stören? Allogro ma non troppo. Ein bisschen verneinen. Keine Übertreibung. Maßhalten, sich zurückhalten. Vorsicht, kein Überschwang. Wohltemporierte Fröhlichkeit. Ich hörte einmal eine Bach-Invention von einem berühmten Pianisten gespielt. Und ich war erstaunt, wie langsam er sie spielte, viel langsamer als ich mir das vorgestellt hatte. Jede Note, jeder Ton wurde zu einem Solisten. Jeder trat einzeln auf, füllig und funkelnd, und ließ sich betrachten und bewundern. Die Lebhaftigkeit und Beweglichkeit der Musik drückte sich nicht in einem Dahinstürmen aus – Laufen ist auch ein Davonlaufen, raumgreifend. Die ganze Energie, die sich in Bewegung austobt, tat dies eben nicht. Sie blieb an Ort und Stelle, sie wurde zu verdichteter Gegenwart, zum gelungenen ‚Verweile doch!’. Eine leidenschaftliche Spannung entstand, von Ton zu Ton weitergegeben und gesteigert. Ich hörte atemlos zu, es war lustvoll und fast quälend schön.
Ich versuche dieses Stück für mich zu Hause auf diese Weise zu spielen. Und die Spannung und Erregung geht von meinen Fingerkuppen aufwärts in meine sinne und mein Sein. Es ist wie eine vorsichtige Annäherung, ein konzentriertes aufsparen, ein Auskosten bei gleichzeitiger Zurückhaltung, eine Steigerungsmöglichkeit mit ungewissen Grenzen. Die Stimmung ist in Schwebe, es ist ein berauschendes spiel mit Gefühlen, an dessen Ende nicht alles erlöst sein darf. Denn das Verlangen und das Beehren wäre ausgelöscht mit der Erfüllung.
Ma non troppo. Die Reduktion der Fröhlichkeit kann mehr und etwas anderes sein als bloß weniger vom selben. Mehr als der realistische Befund, der besagen will, das Leben ist nicht gar so fröhlich. Mehr als ein Kompromiss, eine Enttäuschung mit abgerundeten Ecken, ein zufriedenes Resignieren als Ergebnis von Lebenserfahrung. Weniger von dem einen kann Raum schaffen für ein anderes. Die Einschränkung ist gleichzeitig eine offene Möglichkeit für eine neue Dimension. Die Energie der Allegria muss nicht nur gebremst, sondern kann auf eine andere Ebene geleitet werden und sich dort verwandeln.
Fast alles ist an ein Wenn und Aber gebunden, an eine Einschränkung und eine Bedingung. Das Aber ist das widersprechende Häkchen, das Wenn nennt die Konditionen. Das Aber verweist darauf, dass es auch anders sein könnte. Das Wenn kann ein temporales oder ein konditionales sein. Die Zeit ist immer im Bunde mit allem was geschieht. ‚Wann werden wir uns wiedersehen?’, fragt Clara. Und Franciscus antwortet: ‚Im Winter, wenn die Rosen blühen.’
Das Aber ist der nicht selten anklingende Mollton inmitten einer heiteren Musik. Der Herzschlag, er Atem – der Rhythmus der Zeit und des Vergehens schlägt und fließt in unserem Leib. ‚Media vita in morte sumus’. Sanfter und versöhnlicher als diese harte Zeile einer uralten Antiphon spricht die Dichterin Lilly Sauter über diese unumstößliche Wahrheit:
„Der Abschied schläft im Herzen aller Dinge. / Und viele meinen, wenn sie ihn dort wecken, / dann würde ihnen alles bitter schmecken, / wie eine Frucht, der man den Kern durchbeißt. / Doch manche wissen, nur wenn er erwacht, / kann aller dinge letzte Süße reifen, / die sich erst dann erschließt, wenn wir begreifen, / wie rasch man sie uns von den Lippen reißt.“
E.S.
Venedig, Oktober 2008