E. Schawerda
Die Divertimenti der Ingrid Brandstetter
Divertimento: Ein Wort von tänzerischem Klang, ein Begriff von tänzerischer Bedeutung, der Leichtigkeit, Heiterkeit und Anmut vermittelt. Divertimenti sind Thema und Programm der neuen Bilder von Ingrid Brandstetter. Die Leichtigkeit ist nicht mit Oberflächlichkeit zu verwechseln. Die Heiterkeit hat nichts mit Spaß zu tun. Und die Anmut ist eine Lebenshaltung, beweglich und dem Lebendigen freundlich zugewandt.
So wie sich das musikalische Divertimento des 17. und 18. Jahrhunderts die Freiheit nahm, seine Form nicht genau festzulegen, so folgen auch die Bilder keinem anderen Prinzip als dem Zufall der Begegnung und Beobachtung, dem Vergnügen der Augen der Malerin, mit dem sie die Bilder im Leben aufspürt, in der Erinnerung bewahrt und in ihrer Kunst neu erstehen lässt.
Jede Szene ist eine homöopathische Dosis von Leben, ohne die Schwere von Bedeutung. Doch hinter der heiteren Leichtigkeit und Anmut liegt die allem Kreatürlichen immanente Tragik der Vergänglichkeit. Die Zeit fließt rasch mit uns dahin, und die Bilder fließen rasch an uns vorbei. Die Art des Malens, großflächig, eilig, ohne Details, fokussiert auf das Wesentliche, lässt uns das spüren. Was kann die Kunst tun gegen die Flüchtigkeit des Seins? Sie sammelt Augenblicke, sie zielt auf das kleine Innehalten innerhalb der Verwandlung, den goldenen Schnittpunkt zwischen Vergangenem und Zukünftigem. In jeder Darstellung ist ein Vorher und Nachher unsichtbar enthalten: Der Cellospieler, eins geworden in einer langen Gemeinschaft mit seinem Instrument, hat sein Spiel unterbrochen und schlägt nun die nächste Seite seiner Noten auf. Der traumverlorene Bub, ganz hingegeben dem dolce far niente im Genuss der Sonnenwärme, die ihn einhüllt, - wie lange kann man ohne zu denken sein? Bald schon wird er die Augen wieder aufschlagen. Oder die Gedanken, die noch nicht ihre sprachliche Form gefunden haben, nach der sie suchen auf ihrem Gedankengang, dessen Ziel vielleicht ganz nah ist. Oder das herzliche Lachen einer Frau - es hat eine Ursache und eine Wirkung. ...
Jedes Bild der Ingrid Brandstetter enthält diesen goldenen Schnittpunkt einer Begegnung, sei es eine Begegnung von Mensch zu Mensch, oder des Menschen mit sich selbst, mit einem Buch oder mit seiner Umwelt; oder die Berührung eines Wortes mit einem Blick, einer Geste mit einem Gefühl, einer Gemeinsamkeit mit einem Ereignis. Die Divertimenti bezeugen in ihrer Alltäglichkeit die uns umgebende Fülle des Seins, und ihre Heiterkeit nimmt das Leben ernst.
Divertimenti
Über das Betrachten der Bilder
Einige Sätze vom Standpunkt der Besucher der Ausstellung:
Den ganzen Tag und jeden Tag sind wir visuell ausgeliefert. Zahllose Bilder wirken auf uns ein, eine Bilderflut. Wir verbringen Stunden vor dem Bildschirm. Unsere Umgebung ist mit Bildern überladen, sodass wir uns schützen müssen, dies nicht alles wahrzunehmen, was sich uns aufdrängen will. Wir reduzieren unsere Wahrnehmungsbereitschaft, vergröbern sie. –
Und dann am Abend besuchen wir eine Ausstellung, und alles ist anders. Wir gehen langsam von Bild zu Bild (wie in Musorgskis Bilder einer Ausstellung), bleiben vor jedem stehen, verweilen, schauen hinein wie in einen Raum, denn Bilder können die 3. Dimension des Räumlichen haben, die dann ein Spielraum ist, eine Dimension der Freiheit, der Phantasie und der Emotionalität. Es ist, als könne unser zugewandtes, offenes Schauen das Bild aufwecken, sodass es uns anspricht. - Vielleicht ist das einer der Gründe, ein unbewusster, warum wir abends nach so viel Gesehenem noch zu einer Vernissage gehen: Um uns neu zu sensibilisieren und unserer abgenützten Wahrnehmungsfähigkeit neue Qualität zu verleihen.
Aber vor allem sind wir hier aus Hochschätzung der Künstlerin und aus Freude an einem Fest, das die Geburt neuer Kunstwerke feiert. Sie vermehren den Schatz, den Reichtum an Kultur, an dem wir alle Anteil haben. Es ist ja unsere Kultur, für deren lebendiges Wachstum wir der Künstlerin dankbar sind.
Nun diese Bilder der Ingrid Brandstetter, diese Divertimenti:
Manchmal müssen wir sprachlich über die Grenze gehen, um das richtige Wort zu finden. Der fremde Klang befördert immer etwas mit, eine Nuance des Nichterklär- und Übersetzbaren. Und eine solche enthält jedes Kunstwerk, ein Geheimnis, das man verstehen kann, ohne es zu kennen.
Jeder Künstler ist von Zeitgegebenheiten bestimmt. Er durchdringt sie mit seiner Subjektivität, sie sind in seinen Werken vorhanden, auch wenn diese nicht davon handeln.
Die Zeitgegebenheiten: Konflikte, Katastrophen, Krieg und Elend, Bedrohung aller Orten und Arten. Aber Ingrid Brandstetter malt Divertimenti. Sie setzt den Kontrapunkt. Aber sie setzt ihn nicht ins Romantische oder Ideale, wo er ja keinen festen Stand hätte. Sie setzt ihn dort hin, wo auch wir ihn wahrnehmen könnten, nämlich in die vielfältigen Situationen und Möglichkeiten des alltäglichen Lebens. Und vergessen wir nicht, dass Ingrid Brandstetter eine Kennerin der Mythen ist. Sie kennt und erkennt auch die Mythen des Alltags.
Während der Schreibende sich über seinen Text beugen muss, an seinen Schreibtisch gefesselt, ist der Malende frei in seiner Beweglichkeit. Während wir aus den Texten der Dichter den Rhythmus ihrer Atmung heraushören können, zeigen uns Ingrids große Bilder die Choreographie ihrer Entstehung. Stark in der Linie, zart in der Farbe, Offenheit in den großen Flächen, Raum der inneren Freiheit, Spielraum, und Konturen, großzügig und von bewusster Energie. Härte ist nirgendwo, aber ein Klares und Präzises, das auf einen Punkt zustrebt, an dem sich etwas entlädt: ein Gelächter vielleicht oder ein Seufzer der Erleichterung oder der Lust, ein Glücksmoment oder ein solcher der Erkenntnis. Der Punkt kann auch außerhalb des Bildes liegen, dann drückt das Bild die Bewegung aus, die hinführt. Immer ist etwas Lebendiges da, ein Esprit – und wieder muss es ein Wort aus einer anderen Sprache sein, um das Zauberische der Bilder und das Divertimento, das ihr Thema ist, anklingen zu lassen.